2009 bis 2010
bin ich viel in Berlin. Ich lerne Judith von Radetzky kennen, die ihre langjährige Berufserfahrung als Schauspielerin um ein Regiestudium der besonderen Art ergänzt hat: 4 Jahre lang hat sie bei Anatolij Wasiljev in Lyon gelernt, wie aus dem Spiel auf der Bühne, der Rolle und der Figur im bisherig verstandenen Sinne ganz anders herum ein „Schuh“ wird, der viel besser passt.
J.v.R. ist zur Zeit wohl die einzige Vertreterin, die, selbst mit langjähriger Bühnenerfahrung, nun in Berlin versucht, diese Arbeitsweise für das Theater an den Schauspieler und die Schauspielerin zu bringen. In jahrelanger Etüdenarbeit hat sie nun einen Kreis Begeisterter um sich geschart, die am 10. Februar 2010 nun endlich mit einer Inszenierung von Schillers LOUISE MILLERIN auf die Bühne und an die Öffentlichkeit getreten sind – 6 Vorstellungen, alle voll und eine ermunternde Resonanz – Ich spiele den Miller.
Das Neue Deutschland schrieb:
„Sturm und Drang im Theaterlabor
Friedrich Schillers »Louise Millerin« wurde minimalistisch und kraftvoll am Ballhaus Ost inszeniert
Zwei Stühle und drei halbtransparente Stellwände, mehr Bühnenbild ist nicht. Während das Deutsche Theater die Protagonisten in Schillers »Kabale und Liebe« in und an einem hölzernen Kasten mit unzähligen Türen herumturnen lässt, herrscht bei der Inszenierung des selben Stücks im Ballhaus Ost Minimalismus pur. Unter dem ursprünglichen Titel »Louise Millerin« erzählt Regisseurin Judith von Radetzky den Klassiker als leidenschaftliches Sturm- und Drangstück mit komischen Momenten.
Mit dem 4. Stock des Ballhaus’ Ost, wo es keine Bühne gibt und kein Podest, sondern die Schauspieler direkt vor den Zuschauern agieren, haben sich Judith von Radetzky und ihr Grafit-Theaterlabor für einen intimen Rahmen entschieden, der kaum Abstand zulässt. Umso intensiver wirkt das kraftvolle, körperbetonte Spiel der Darsteller, die gute drei Stunden lang die abgewetzten Dielen mit energischen Schritten, verliebtem Getänzel, Freudensprüngen und hasserfülltem Kampf zum Knarren bringen.
»Maximale Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit des Spiels« strebt die Truppe an, die sich als Labor im eigentlichen Sinne versteht: Gründliche Recherchen und langes Experimentieren während der Proben gingen der Aufführung voraus, die durchaus weitere Änderungen erfahren kann – jede Vorstellung soll die aktuelle Entwicklungsphase zeigen.
Das klingt recht trocken, doch dieser Vorwurf wäre ungerecht. Ganz im Gegenteil, hat die Schauspielerin und Regisseurin Judith von Radetzky mit »Louise Millerin« ein temporeiches, szenisch gut durchdachtes und originelles Bühnenstück inszeniert, das geschickt mit den Mitteln sowohl der Ironie und Übertreibung spielt als auch mit Kontrasten und Brüchen. So sind Frisuren, Kleidung und Gestik der Darsteller ganz von heute, während Schillers Sprache unverändert bleibt.
Man merkt den acht Darstellern an, dass sie sich im Schillerschen Duktus zu Hause fühlen. Frisch und wie improvisiert wirken die ab und zu eingestreuten Anspielungen auf aktuelle Ereignisse – so darf Hofmarschall von Kalb seinen Reitunfall auf die »wieder nicht gestreuten Wege« zurückführen, und um Louise unter Druck zu setzen, wird ihr Vater kurzerhand wegen Steuerhinterziehung eingekerkert.
Felix Würgler spielt diesen Vater, einen angesehenen Stadtmusiker, mit gesunder Skepsis und aufbrausendem Temperament seiner schwatzhaften Frau (Anja Fliess) gegenüber. Theresa Sophie Albert gibt die Titel gebende Bürgerstochter Louise als naive Blondine mit festem Charakter. Die Liebe zwischen ihr und dem Adeligen Ferdinand stürzt sie in heftige Gefühlswallungen und birgt Vorahnungen von drohendem Unheil.
Verkörpert wird dieses durch ein intrigantes Trio, das aus unterschiedlichen Gründen eine Heirat zwischen Louise und Ferdinand verhindern will: André Scioblowski als berechnend-fieser Sekretarius Wurm, Lars Jokubeit als Hofmarschall mit Musterknaben-Scheitel und der großartige Stephan Maria Fischer als machtgieriger, mit allen Wassern gewaschener Präsident, der seinen Sohn mit der herzoglichen Mätresse Lady Milford verheiraten will.
Ein egozentrischer, sehr von sich überzeugter Geck mit Freddy-Mercury-Schnurrbart, Panamahut und weißem Seidenschal ist Kai Arne Janssens Ferdinand, während Anja Marlene Korpiun eine ebenso eitle wie leidenschaftlich-überdrehte Lady Milford abgibt. Die Szene, in der die brünette Schönheit im pfirsichfarbenen Seidenanzug Ferdinand ihren Lebensweg schildert und beide zu Tränen gerührt sind von ihrer Tapferkeit und Güte, gehört zu den Höhepunkten des Stücks.
Hie und da hat die 3-Stunden-Produktion ihre Längen, doch wie das kleine Ensemble es hinbekommen hat, das biedere Trauerspiel aus dem Deutschunterricht zu entstauben und ihm Witz und Komik zu entlocken, ist wirklich sehenswert.“
Ich bin überzeugt, dass diese Arbeitsmethode, die die Etüdenarbeit des „späten“ Stanislawski mit der Spielstruktur des italienischen Theaters verbindet und in Paris u.a. von dem „Meister“ selbst (A. Wasilijef) und in Berlin von Judith von Radetzky unterichtet wird ein enorm aktivierender Vitaminstoss und eine, nicht nur, handwerkliche Bereicherung für jeden Profi ist, der/die Freude an seinem Beruf behalten möchte.
Wen es interessiert, der soll sich mal direkt mit dem graphit-theaterlabor, Aktzente und Judith von Radetzky in Verbindung setzen und wer bisher glaubte ein(e) gestandene(r) SchauspielerIn zu sein, wird hier auf arbeitsintensive und erhellende Weise eines besseren belehrt.